Die akademische Sommerpause in der Denkfabrik ist vorüber. 
Für den Lehrstuhl für Angewandte Drahteselei höchste Zeit,
eine neue Vorlesung aufzuziehen.


 
  Kommen
wir
nun
also 
zur
enthusiastischen
Drahteselei.
Lassen auch Sie sich enthusiasmieren!

Enthusiasmus bedeutet nach dem Fremdwörterbuch Begeisterung und Leidenschaftlichkeit. Drahteselei meint nach Lektion 1 des Rundkurses Drahteselei die funky Symbiose zwischen Radler und Gefährt.
Die enthusiastische Drahteselei steht mithin für eine ganz besondere Art, sich fortzubewegen.
Sie wird zumeist dadurch charakterisiert, dass der (stets trübe) Blick des Fahrers und die (stets endlose) Straße eine feste geometrische Einheit bilden, während im Verborgenen eine wilde Verbrennungsorgie unnützer Kalorien seinen Lauf nimmt.
Ein wichtiges Kennzeichen der enthusiastischen Drahteselei ist dabei die Freiwilligkeit, ja die Vorsätzlichkeit, sich in eine physisch höchst anspruchsvolle Situation zu begeben und - der Weg ist schließlich das Ziel - zu durchleben.

In dieser Vorlesung soll und kann nur die kompetitive enthusiastische Drahteselei erfaßt werden, die wohl populärste Spielart. Sie ist unzweifelhaft daran zu erkennen, dass die oben genannte geometrische Einheit von Blick und Straße durch einige fremde Hinterräder ergänzt wird.
. 

Im Spektrum der enthusiastischen Drahteselei finden sich außerdem:
- die egozentrische Variante, gekennzeichnet durch Bevorzugung von Auf-eigene-Faust- 
    Wüstendurchquerungen 
- die körperkultige Variante, die unter Umständen nicht zur enthusiastischen Drahteselei gehört, 
    da die Begeisterung hier durch Fitneßsucht ersetzt wird
.
Die enthusiastische Drahteselei entstand, will man von den entfernt artverwandten Draisinenrennen seit 1820 absehen, in größerem Maße ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. So glaubten schon die ersten olympischen Spiele der Neuzeit in Athen 1896 nicht ohne sechs Radwettbewerbe auskommen zu können. Seitdem hat sich die kompetitive enthusiastische Drahteselei in unseren Breiten fest etabliert als "die absolute Nummer 1 unter den Schindersportarten. Dahinter klafft erst einmal eine riesige Lücke. Dann kommt Rudern, der Sport, bei dem die Teilnehmer nach Ende des Rennens gerne vor Erschöpfung aus dem Boot kotzen..." (DIE ZEIT).

Doch kommen wir nun zu Potte. Die glorreichen Länder sind vorzustellen, in denen der Radsport (der vulgärsprachliche Begriff für die kompetitive enthusiastische Drahteselei) mehr als anderswo reüssiert hat. Wenn man davon ausgeht, dass die internationale enthusiastische Drahteselei einen Körper darstellt, dann ist
Italien das Herz
Frankreich der Gehirn
Belgien der rechte Arm
Spanien das linke Bein
und Deutschland der Blinddarm
unseres cyclosophischen Menschens.

Demnächst beginnen wir uns den beiden Supermächten der kompetitiven enthusiastischen Drahteselei zuzuwenden, den Ländern, wo sich das Rad in allen - oder zumindest allerlei - Köpfen dreht:
 
Italien
Coppisten und Bartalisten, Giro und Pantamania

"Sollte es Ihnen passieren, dass Sie in Italien äußern, das Fahrrad sei nicht von einem Italiener erfunden, so werden sie sehen: alle Mienen verdunkeln sich, ein Schleier von Traurigkeit legt sich über die Gesichter. Oh, wenn sie in Italien sagen, wenn sie laut und deutlich in einem Café oder auf der Straße sagen, daß das Fahrrad nicht genau wie das Pferd, der Hund, der Adler, die Blumen, die Bäume, die Wolken von einem Italiener erfunden worden ist (denn es waren die Italiener, die das Pferd, den Hund, den Adler, die Blumen, die Bäume, die Wolken erfunden haben), dann wird der Halbinsel ein langer Schauer über den Rücken jagen, von den Alpen bis zum Ätna..."
(Curzio Malaparte: Das Lächeln des Fahrrads, 1949)

Frankreich
Le Tour, Roubaix, Poupou und Mont Ventoux

"Die immer dichter werdende Menge ist bis zur Mitte der Strasse vorgedrungen und öffnet sich in ihrem lästigen Übereifer immer gerade vor dem Führenden, der nun den Kopf oben hat, so daß man seinen verzweifelten Blick und seinen offenen Mund sieht, aus dem wohl wütende Schreie kommen. Man macht ihm Platz, aber die Menschenmenge schließt sich gleich wieder vor uns, die wir ihm folgen, so wie ein Kornfeld, das sich nach dem Windstoß sofort wieder aufrichtet. Ein zweiter Fahrer streift uns, genauso von der Menge behindert, die ihn feiert, und sein blondes Gesicht, genauso wütend, starrt wie von Sinnen auf einen Punkt da vorne: den Eingang der Radrennbahn..." 
(Gabrielle Sidonie Colette: Ende einer Tour de France, 1923)

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